Das abtrainierte Nein

Foto: pixabay.com - many thanks to NGDPhotoworks :)
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Gehörst Du zu den Menschen, die schwer Nein sagen können? Hast Du gelernt, höflich zu sein und Deine wahren Gedanken lieber für Dich zu behalten?

 

Leidest Du darunter, dass man Dir z. B. in der Arbeit immer mehr aufbürdet, kannst es jedoch nicht stoppen? Überhaupt lässt Du Dir so einiges von anderen gefallen und ärgerst Dich später darüber?

 

Sagst Du auch in Deiner Familie grundsätzlich immer ja und wirst mit Verpflichtungen überfrachtet? Und in der Partnerschaft traust Du Dich nicht, Grenzen zu setzen?

 

Dann scheust Du Dich höchstwahrscheinlich, Dein Nein auszudrücken, weil es Dir in Kindertagen abtrainiert wurde! Bei mir ist es ebenso (bzw. war es so) - das zeigte ein Schlüsselerlebnis vor einigen Tagen auf:

 

 

Ein kleiner Junge sagt selbstbewusst Nein...

Ich war zu Besuch bei meinen Eltern in Bayern - sie sind seit fast vier Jahrzehnten Inhaber eines Restaurants. Aufgrund des schönen Wetters befanden wir uns auf der Biergartenterrasse - meine Mutter, mein Zwillingsbruder, sein jüngster Sohn Philip (2 Jahre und total vernarrt in Bälle) und noch einige Gäste.

 

Jedes Mal, wenn mich mein Neffe sieht, will er mit mir Fußball spielen. Herrlich, wie sich ein Kind dabei freuen kann. Auch diesmal spielten wir eine Weile, als ein Bekannter meiner Mutter dazu kam.

 

"Och, lass uns auch spielen! Komm, schieß den Ball zu mir!" sagte der Herr lächelnd. Philip reagierte zuerst nicht. Dann erneut: "Philip, schieß zu mir, lass uns spielen!"

 

Philip stoppte, drehte sich verstohlen weg und sagte laut: "Nein!"

 

Meine Mutter, die alles beobachtet hatte, schaltete sich ein: "Ach komm Philip, schieß doch den Ball zu ihm!" (Mit anderen Worten: Sei doch ein lieber Junge und erfüll ihm den Wunsch...)

 

Die Bitte des Mannes war ja freundlich, dennoch blieb mein Neffe bei seinem Nein! Er wollte partout nicht mit jemandem spielen, den er nicht kannte. Meine Mama wiederholte sanft ihre Aufforderung.

 

Bei dieser Szene machte es bei mir Klick! Genauso hatte sich meine Mutter wahrscheinlich verhalten, als ich klein war. Ich konnte mir plötzlich vorstellen, wie viele Male sie vermutlich auf meinen Zwillingsbruder und mich erzieherisch eingewirkt und unser Nein nicht akzeptiert hatte.

 

Als Kinder von Gastronomen standen wir ständig auch unter der Beobachtung von Gästen, die unser Lokal besuchten. Wir zwei Blondschöpfe, die sich sehr ähnelten, fielen natürlich auf, und unsere Eltern waren darauf bedacht, dass wir einen positiven Eindruck hinterließen. Wie bei den meisten Erziehungsberechtigen war das Ziel: liebe, brave, freundliche und folgsame Kinder...

 

 

Wie viele Mamis und Papis gibt es, denen nicht bewusst ist, wie wichtig es ist, das Nein eines Kindes zu akzeptieren...

Ich weiß sicher, dass meine Mutter meinen Bruder und mich sehr liebt, aber als ich diese Situation mit ihrem Enkel reflektierte, wurde mir klar: Meine Ma hat uns, ohne dass es ihr bewusst war, die Verneinung abtrainiert. (Bestimmt war sie als kleines Mädchen gleichermaßen erzogen worden, und sie gab es an uns weiter.)

 

Denke ich zurück, bekomme ich das Gefühl, als Kind ein Nein überhaupt nicht gekannt zu haben. Wahrscheinlich entsprach ich sehr oft bereitwillig den Wünschen meiner Mutter, ignorierte meine inneren Widerstände und tat schließlich das, was von mir erwartet wurde...

 

Wie häufig passiert so etwas Ähnliches tagtäglich in der Kindererziehung? Okay, die Ballszene mag für manche nichts Gravierendes sein. Aber, wie viele Mamis und Papis gibt es, denen nicht bewusst ist, wie wichtig es ist, das Nein eines Kindes zu akzeptieren und eben nicht so lange auf die Tochter oder den Sohn einzureden, bis ein Ja kommt?

 

Möglicherweise war das auch der Grund dafür, dass es mir als Jugendlichem und Erwachsenen lange schwerfiel, selbst zu erkennen, wann mein Ja tatsächlich ein Ja ist.

 

Ich glaube, ich bin deshalb in der Dienstleistung gelandet, denn dort braucht es Leute, die nach dem Motto handeln: "Geht nicht, gibt´s nicht! Der Kunde ist König! Ein Nein wird nicht akzeptiert."

 

Insbesondere in der gastronomischen Berufssparte versuchte ich sehr vieles, was mir am Ende keine Freude brachte, dementsprechend waren meine finanziellen Verhältnisse und mein Energielevel. Sicherlich wurde ich sehr von meinem Verstand gesteuert, ich redete meine Entscheidungen mit rationellen Argumenten schön. Heute dagegen weiß ich:

 

 

Letztendlich ist das Gefühl entscheidend, und die Wahrheit will immer an die Oberfläche.

Beim Armlängentest - ein kinesiologisches Testverfahren - bedeutet Stress ein Nein, dabei verkürzt sich ein Arm durch die Muskelspannung. Ist der Körper entspannt, erhält man ein Ja, die Arme sind gleich lang.

 

Jeder Mensch ist in der Lage, Stress bzw. die minimale Verkrampfung zu fühlen, die ein negativer Gedanke oder eine Idee hervorruft. Beispielsweise die Vorstellung, in einem Unternehmen zu arbeiten, bei dem man sich beworben hat (welches zwar gut zahlt, dessen Chef jedoch die Mitarbeiter schlecht behandelt. Die Seele nimmt das bereits beim Vorstellungsgespräch wahr...)

 

Genauso fühlt man die Anspannung, wenn man zu entscheiden hat, ob die Beziehung mit diesem oder jenem Partner weitergehen soll oder nicht. Eine gelebte Unwahrheit bzw. das, was nicht gut für einen selbst ist, stresst den Körper. Die Wahrheit führt zum Gegenteil. Die Seele sehnt sich eigentlich immer nach Ehrlichkeit und Authentizität...

 

Ein Ja ist leicht und der Organismus bleibt locker. Jedoch sind viele, deren Nein abtrainiert wurde, nicht in der Lage, die Unterschiede bewusst wahrzunehmen...

 

Möglicherweise sind deshalb so viele Lebensläufe schief und schwierig, weil wir unser inneres Nein nicht erkennen! Und selbst wenn uns das gelingt, trauen wir uns oft nicht, es zu äußern.

 

Egal, ob im Job, in der Partnerschaft oder in der Familie: Aus Angst, andere zu enttäuschen oder aufgrund des Bedürfnisses nach Harmonie sagt man lieber ja, obwohl man das Gegenteil fühlt...

 

Nur eines steht fest: Wer das macht, zahlt dafür einen Preis. Anfangs ist es noch erträglich, es gibt keinen Streit, und es herrscht eine scheinbare Harmonie, doch im Inneren baut sich mit der Zeit Spannung auf, weil man seine Wahrheit nicht mitteilt. Irgendwann explodiert das Angestaute, die Wahrheit drängt an die Oberfläche, die Täuschung fliegt auf, und auf einmal funktioniert z. B. eine Beziehung nicht mehr...

 

 

Sollte nicht auch jeder Erwachsene Nein sagen dürfen, ohne dass das Gegenüber gleich beleidigt ist?

Zurück zu meinem Neffen: Als sich der 2-Jährige wegdrehte und seine Ablehnung kundtat, machte er dies, ohne nachzudenken - er handelte mit seiner kindlichen Spontanität - geradeheraus. Ich fand das toll!

 

Ich bin sicher, die Geister scheiden sich bei diesem Thema: Entweder gehört man zu der Kategorie der Erwachsenen, die sagt: "Sei höflich, sei nett, sei brav, sei lieb - das gehört sich so" etc.

 

Oder man vertritt die Meinung: "Ja, die Kleine / der Kleine darf das. Niemand muss etwas tun, was er nicht möchte"...

 

Aber schon Kinder, die einige Jahre älter sind, und besonders Erwachsene bekommen häufig Probleme mit der Ehrlichkeit, reagieren schnell enttäuscht oder können die Ablehnung nicht annehmen.

 

Eigentlich darf jeder nein sagen, oder? "Wenn andere damit nicht umgehen können, ist es nicht mein Problem!" Leichter gesagt als getan: Ich selbst ertappe mich hin und wieder durchaus dabei, dass es mir schwerfällt, eine Bitte abzulehnen...

 

Wäre es nicht schön, wenn wir mehr Mut zur Ehrlichkeit hätten? Ich habe Jahre gebraucht, dazu zurückzukehren - es war ein Prozess. Manchmal merke ich, wie Ängste in mir aufsteigen, bevor ich allen Mut zusammennehme, um meine Wahrheit auszusprechen.

 

Es gibt immer mehr Menschen, die sich mittlerweile auf den Weg gemacht haben, authentisch zu sein - Integrität* zu leben. Dazu gehört, ehrlich zu kommunizieren, und:

 

 

Ich darf Nein sagen

  • zu dem, was ich nicht will
  • zu Aufgaben, die mir widerstreben
  • zu Menschen, zu denen ich keinen Kontakt haben
    will oder deren Energie ich nicht aushalte
  • wenn mir etwas nicht passt oder nicht gefällt u.v.m.

 
Es wäre super, wenn wir wieder wie Kinder würden, dann wüsste jeder gleich, woran er ist. Es gäbe kein falsches Miteinander, kein Verhalten nur aus reiner Höflichkeit usw. Dann spart man sich auch Enttäuschungen und böse Überraschungen...

 

Bis das der Fall ist, müssen wir so einige Verfremdungen durch die Erziehung aus unserem System entfernen...

 

Im gleichen Zuge ist es notwendig, umgekehrt auch das Nein des Gegenübers zu akzeptieren. Das symbolisiert auch Respekt sowie die Anerkennung der Freiheit eines jeden Mitmenschen.

 

Sobald das eigene Selbstvertrauen und das richtige Maß an Selbstliebe präsent sind, gelingt dies auch.

 

Also, werde misstrauisch, wenn jemand nach Deinem Nein ein Drama-Programm abspielt. Nicht wenige sind es gewöhnt zu beeinflussen, um das zu bekommen, was sie wollen, und so wiederholen sich in Beziehungen die Rollen der Kinderzeit - es sei denn, man durchschaut das Spiel...

 

Ich sage ja zum Nein ;) Das Nein darf sein!

 

 

* Tipp: Wer mehr über Integrität erfahren will, dem empfehle ich die Seite vom Arzt und innerwise Entwickler Uwe Albrecht. Integrity is my Way!

 

 

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